„Nein, ich habe niemanden bestellt…. Wer sind Sie?“ Tiefblaue, erstaunte Augen, tausende kleine Fältchen, darüber gelockte Zuckerwattehaare linsen mich durch den Türspalt über straff gespannter Sicherheitskette mißtrauisch an.
Dass sie einen Arzt gerufen hat, daran kann sie sich nicht mehr erinnern – sie lässt mich trotzdem eintreten. Und dann erzählt sie. Nicht von ihren Beschwerden, die sie vor einer halben Stunde zum Telefonhörer haben greifen und den Bereitschaftsdienst anrufen lassen, sondern von ihrer Kindheit. Von der Mutter, die so gut zu ihr und den Geschwistern war, vom großen Garten, den Kirschbäumen, die im Frühling so schön blühten, von den Tieren, die sie hatten, von ihrer unbeschwerten Kindheit in großer Geborgenheit.
„Wir hatten es so gut!“ Ihre Erinnerung hangeln sich an Bilder entlang, an Bildern, die in ihrem Kopf präsenter sind, als der Moment. Der dicke grau getigerte Kater (der mir dankenswerter Weise die Tür zu ihr geöffnet hat – sie hatte ja schon wieder vergessen, warum – ja überhaupt, dass – sie angerufen hat. Dass sie ein Katzentier hat, schon immer eines hatte, daran konnte sie sich erinnern, das Thema dankbar annehmen – „hey, ich bin nicht dement!“ man muss jedem die Chance geben, sein Gesicht zu wahren), sitzt derweil auf ihrem Schoß und gibt die Schnurrmaschine.
(Eine somatische Diagnose hatte sie freilich auch, aber die war eigentlich gar nicht so wichtig.)
Eine andere Frau ihres Alters liegt derweil in ihrem Bett, die Beine kontrakt angewinkelt, sie liegt im Sterben. Sie weint nach ihrer Mutter. Sie ist in einem frühen Bild, einem beängstigenden Bild gefangen. Sie ist wieder Kind, sie ist im Krieg, sie sitzt im Luftschutzkeller, Bomben fallen, sie nimmt die Hand nicht wahr, die die ihre hält, im Hier und Jetzt. (Sedative sind nicht immer ein Segen – hier waren sie es.)
„Im Alter lebt man zunehmend in der Erinnerung“, sagt meine Mutter immer. Sie ist über achtzig und wird langsam ein wenig tüddelig. Und je tüddeliger sie wird, desto mehr greift sie auf vergangene Bilder zurück.
Oftmals sind diese Bilder nicht nur im Kopf, sondern auf langsam vergilbendes Papier gebannt.
Es sind die Erinnerungen, die am Ende des Lebens die Tage erleichtern oder sie aber schwer, ja unerträglich machen können. Das tun sie auch schon vorher, nur unterschwellig, da über ihnen – zumindest im Wachzustand – die erlebte Hektik die Aufmerksamkeit okkupiert.
Gute Erinnerungen – man sollte sie separieren, aufheben, hüten wie einen Schatz.
Im Kopf und auf Photographien.
Denn Photographien sind externe Festplatten der Seele.
Hach! JA!
danke. schön und traurig, und man wünscht der sterbenden, dass die angst nochmal verschwindet. ich mache ab jetzt mehr bilder 🙂
Manchmal, wenn ich z.B. auf Familienfeiern fotografiere, habe ich auch den Eindruck, man könne die Erinnerung ein wenig polieren. Damit sie glänzt und alles Stumpfe vergessen wird. (Man muss sich mit der Kamera nur lange genug lächelnd neben die Leute stellen, die einen verkniffenen Eindruck machen und sie irgendwie zum Lachen bringen, damit es hinterher heißen kann: „Schau mal, das war so ein schönes Fest, sogar der Onkel XY hat gelacht.“ 😉
Auf manchen Feste, wie dem dort oben, ist das aber auch gar nicht notwendig. 🙂 (Das war sooo toll!!!)
Wie wunderschön be- und geschrieben, Petra!
Und ja: Photographien sind externe Festplatten der Seele, so wie für mich auch CDs und (Tage)Bücher.
Kennst Du das Buch von Arno Geiger „Der alte König im Exil“? Sehr empfehlenswert.
In Berlin gibt es eine Senioreneinrichtung, die buchstäblich alte, demente Menschen dort abholt, wo sie in ihrer Erinnerung geblieben sind: An einer Bushaltestelle z.B. Soll heißen. Sie haben auf der Station eine Bushaltestelle, bestehend aus Wartebank, Busfahrplan mit Zeiten und Busschild hingebaut, dort sitzen die sonst ruhelos umherziehenden Alten, warten auf den Bus, der nie kommt (was aber egal ist) und reden mit wem immer sich neben sie setzt. In der gleichen Einrichtung gibt es einen Erinnerungsraum. Hier liegen alte, echte Fotoalben aus. Die Anwohnen können dort ihre Alben oder die der Anderen ansehen und tauchen augenblicklich in bekanntes Terrain ein und sind GLÜCKLICH. Ich hoffe, wenn wir in dem Alter sind, ist das die Norm, dieses Verstehen, im Umgang mit alten Menschen.
Von dem Buch habe ich gehört, gelesen habe ich es bislang nicht, aber das werde ich nachholen! Danke für den Tipp, Bettina! 🙂
Die Senioreneinrichtung kenne ich leider auch nicht – was mich nicht wundert, denn im Bereitschaftsdienst wurde ich ja immer nur dorthin gerufen, wo es eben nicht optimal lief – im schlimmsten Fall verlangte man von mir eine Zwangseinweisung eines Bewohners, der die Schwestern und Pfleger tätlich angegriffen hatte. Man hatte immer wieder eindringlichst versucht ihm klar zu machen, dass er sich nicht in seiner Wohnung, sondern in einem Pflegeheim befindet. Irgendwann ist er sehr wütend geworden, weil er doch wußte, dass es seine Wohnung ist! Das Problem ließ sich ganz einfach mit einer freundlichen Begrüßung lösen – er hielt mich für eine alte Bekannte, was ich zwar nicht bestätigte, aber auch nicht abstritt. Nach einem kurzen, herzlichen Gespräch war er wieder froh und guter Dinge.
Die Ansprache an das Personal danach im Aufenthaltsraum, hat deutlich länger gedauert…
Waren alles studentische Aushilfen, die armen Socken, und niemand hatte ihnen je gesagt, wie man in solchen Situationen reagieren sollte.