23. November. 2024

Narkose und Portrait

Anästhesie und Fotografie haben wohl einiges gemeinsam.

1. Theoretische Kenntnisse

Ist irgendwie klar: Ohne physikalische Grundkenntnisse der Optik, nur so aus dem Bauch und mit Belichtungsautomatik kann man vielleicht nett knipsen, gute Fotos entstehen so lediglich zufällig, wenn überhaupt.
Ohne profundes medizinisches Wissen über Physiologie, Pathologie, Pharmakologie, Anatomie und vieles mehr, kann der Anästhesist einpacken (nämlich die Leichen, die seinen Weg pflastern…).

2. Beherrschen der Technik

Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass es sich deutlich beschissener anfühlt, plötzlich vor einem Narkosegerät zu stehen, das man noch nie bedient hat (und an dem der Patient, dessen Schlaf man gleich weiter führen soll, bei bereits begonnener Operation schon angestöpselt ist…), als bei einem Fotoshooting z.B. nicht sofort zu raffen, warum die Kamera das blöde 50 mm – Objektiv gerade nicht annimmt.

Für beide Fälle aber gilt: Erstmal auf manuellen Betrieb umschalten.

Den muss man dann allerdings auch beherrschen – womit wir wieder bei Punkt 1 wären.

3. Nicht die Kamera macht das Foto

Gute Fotos kann man auch mit Lochblende machen.
Es kommt immer noch zu über 90 (99?) Prozent auf den Menschen an, der die Kamera in der Hand hält, auf Blick, auf Intuition, auf Timing.

Das ist in der Anästhesie ähnlich. Mit einem ollen Sulla 800 habe ich über Jahre hinweg sanfte Narkosen hinbekommen. Wenn man Beatmungsbeutel die ganze Zeit per Hand bedient, ist man ganz nah dran am Patienten, bekommt jede noch so kleine eigenen Atembewegung mit, kann sanft unterstützen, wo das Beatmungsgerät sonst einfach drüber pusten würde. Zur Not kommt man mit dem Finger am Puls und dem Blick auf dem Patienten sogar ohne Überwachungsgeräte aus – na gut, das ist dann schon ein wenig wie Lochblende Lambarene. Mit wacher Intuition und gutem Timing kann man gegensteuern, noch bevor die Komplikation eingetreten ist.

4. Flexibilität

Was dem Fotografen das Gaffa-Tape ist dem Anästhesisten die Kukident-Haftcreme. Mit ersterem bekommt man alles fixiert, mit letzterem kann man die kleine Dichtung, die der grobmotorische Gaslieferant vom Sauerstoffanschluss gerissen hat zumindest passager ersetzten (okay, nicht ganz MPG-konform, aber im Notfall allemal besser, als die Narkose mitten in der Op ausleiten zu müssen…)

5. Vertrauen

Ganz wichtig, das Wichtigste überhaupt.

Gute Portraits bekommt man nur, wenn einem sein Gegenüber zumindest ein wenig Vertrauen schenkt.

Vertraut dir der Patient nicht, den du narkotisiert, sind Komplikationen vorprogrammiert. Komplikationen, die sich in vielen Fällen durch einfaches Vertiefen der Narkose ausbügeln lassen – wie der Patient nach einer solchen Holzhammermethode allerdings aufwacht, ist eine andere Frage.
Genau so bekommt man einen verkrampften Gesichtsausdruck auch nicht unbedingt wieder weg gephotoshopt.

Auf der anderen Seite gelingen glatte Narkoseverläufe ohne Komplikationen mit für den Patienten angenehmen Aufwachen auch bei Multimorbiden, Alten und Gebrechlichen wenn man es im Vorfeld schafft, dass einem der Mensch, den man da gleich schlafen legen muss, vertraut.

Einen Menschen zu portraitieren erfordert auch Vertrauen, wenn auch vielleicht kein solch ausgeprägtes, denn nur so bekommt man ausdruckstarke Fotos – auch und ganz besonders von Menschen, die einem als „aber überhaupt nicht fotogen“ angekündigt wurden.
(Mal so nebenbei: Was heißt eigentlich „fotogen“? Mir wurde neulich angetragen, eine Person un_be_dingt zu fotografieren, weil diese Person un_ge_heuer fotogen sei. Ich habe das nicht gemacht.)

Unterschiede gibt es aber auch. Während es für den Fotografen ein absolutes No-go ist, sein Modell anzufassen, lässt sich in der Anästhesie eine gewisse körperliche Nähe gar nicht vermeiden. Wobei ich auf den grüngelben Rotz, den mir der Kettenraucher bei der Extubation ins Auge hustet gut verzichten könnte.

Genug der Klugscheisserei – zurück an die Arbeit!