18. April. 2024

Jazzfest Berlin 2017 – Nachlese, die erste

Seit einigen Jahren ist das Jazzfest Berlin fester Bestandteil unserer novembrigen (Bild-) Berichterstattung.

In diesem Jahr waren die Auflagen für Fotografen nochmal deutlich restriktiver. Aus diesem Grund möchte ich darauf hinweisen, dass alle Aufnahmen, die nach den ersten 10 Minuten eines Sets entstanden sind, mit einer lautlosen Kamera via Touchpad auf Höhe des Sitzes aufgenommen wurden. Es wurde also keine Radioübertragung, keine Tonaufnahme, ja nicht einmal jemand durch eine auf Augenhöhe gehaltene Kamera gestört. Soviel zum Disclaimer.

Bereits nach dem ersten Konzert auf der Hauptbühne der Berliner Festspiele hatte ich einen Eintrag für dieses Blog hier verfasst. Er hatte im Wesentlichen den Grundton des entsprechenden Artikels vom Huflaikhan in der JazzZeitung: Da war kein Funke der überspringen mochte.
Dass ich den Eintrag im Entwurfmodus belassen und nicht sofort veröffentlicht habe, mag vielleicht daran gelegen haben, dass, auch wenn hier kein „Funkenflug“ zu verzeichnen, so doch ein vages Gefühl zu verspüren war, dass noch mehr kommt, dass dieser erste Eindruck täuschte, dass von dem Artist-in Residence Tyshawn Sorey mehr, viel mehr zu erwarten war.

Und dieser Eindruck war richtig, wie auch Kollege Hufner in der JazzZeitung feststellte.
Den zweiten Auftritt von Tyshawn Sorey, den wir auf der großen Bühne des Hauses der Berliner Festspiele miterleben durften, war der im Trio der wunderbaren Angelika Niescier, der zuvor der Albert-Mangelsdorff-Preis der Union Deutscher Jazzmusiker (UDJ) verliehen wurde.

(Angelika Niescier ist nicht nur eine großartige, energiegeladene Künstlerin und ein ganz toller, hochsympathischer Mensch, sondern auch eines der raren Vorbilder für eine neue Generation junger Frauen – nicht nur im Jazz. Deshalb soll die Preisverleihung an sie hier nicht nur in einem Nebensatz erwähnt werden – es wird hierzu später noch einen separaten Eintrag geben).

Sorey schien bei diesem Auftritt nicht nur Begleiter am Schlagzeug, sondern musikalischer Gesprächspartner und vielmehr noch als dies, so etwas wie ein stiller Strukturgeber (sehr eindringlich die Szene, in der Angelika Niescer auf Tyshawn Sorey deutet und strahlend zweimal zum Bassisten Chris Tordini gewandt etwas wie: „What he says“ sagt. Gemeint war der von Sorey vorgegebene Takt.)

Dass Tyshawn Sorey, der im übrigen im Fach Komposition an der Columbia University promovierte und eine Professur in diesem Fach an der Wesleyan University in Connecticut inne hat, nicht nur ein virtuoser Ausnahmeschlagzeuger, sondern ein ganz allgemein begnadeter Musiker mit ungeheurem Tiefgang ist, zeigte er am letzten Abend des Jazzfestes.

Was im Programmheft wie folgt beschrieben wurde:

„…wird er eine Gruppe in Berlin ansässiger Musiker*innen anleiten und dabei seine Version einer Methode zur Organisation groß angelegter Improvisationen anwenden, die von Anthony Braxton und dem verstorbenen Lawrence D. „Butch“ Morris eingeführt wurde – der sogenannten „Conduction“.

war, wie es ein ansonsten nicht zu euphorischen Ausbrüchen neigender Fotografenkollege hinterher bezeichnete, nicht nur Balsam für die Seele, sondern ein Beweis dafür, dass aus dem geführten, improvisatorischen Zusammenspiel unterschiedlichster Einzelpersonen auch gänzlich ohne vorgegebene Partitur aus dem gegenwärtigen Moment heraus eine unglaublich strukturierte Komposition entstehen kann und so ein mitreißendes, packendes, tief berührendes Musikstück hörbar wird.
Zu spüren und zu sehen war die gespannte, das gesamte Stück über andauernde Konzentration der MusikerInnen, was – wie die Harfenistin Kathrin Pechlof es in einem Radio-Interview beschrieb – unter anderem dem Umstand geschuldet war, dass keine/r der MusikerInnen wusste, wann sie den nächsten Einsatz hatten.

Was aber auch zu sehen war, das war ein „Conductor“ der mit unglaublicher Präzision aus dem Moment heraus agierte, die wohl zwanzig vorher vereinbarten Zeichen in ständiger nonverbaler und schriftlich verbaler Kommunikation an die ausführenden MusikerInnen gleichsam beamte, dass man den Eindruck bekommen konnte, all dies sei auch rein telepathisch möglich.

So viel zu dem, was mein fotografisches Ohr aufgenommen hat.
Hier der entsprechende Artikel in der JazzZeitung.

Was sich fast nebenbei vermittelte und in der heutigen Zeit des inhaltlich leerlaufenden Führungscoachings leider nicht mehr unter „eigentlich Binsenweisheit“ zu verbuchen ist, das war, dass eine solch virtuose Führung mehr ist, als nur das Abturnen von einstudierten Posen.
Dass diese Art der Führung nämlich eine intensive und tiefe Auseinandersetzung mit theoretischen und geschichtlichen Aspekten des Gegenstandes, der durch das „Team“ geschaffen werden soll, eine präzise, nur mit umfangreichster Übung zu erreichender Ausführung und nicht zuletzt einer Persönlichkeit bedarf, der die Darstellung ihrer eigenen Person nicht nur Nebensache, sondern eher vollkommen egal ist.

In diesem Sinne: Tiefer Respekt für und eine ebensolche Verbeugung vor Tyshawn Sorey.

Und einen großen Dank an den scheidenden künstlerischen Leiter des Jazzfest Berlin, Richard Williams, der „seinem“ Artist-in-Residence vollkommen freie Hand gelassen hat.